Ambiguitätstoleranz – die Kunst, mit Widersprüchen umgehen zu können

LIEBESERKLÄRUNGEN - DAS BLOGMAGAZIN DER SJS BERATUNG

Sabine Jantzer-Schmidt

Paartherapeut & Beziehungscoach

Wir sind fest davon überzeugt: Damit eine Beziehung funktioniert, brauchen beide Partner eine ausgeprägte Ambiguitätstoleranz.

Wenn Sie wissen möchten,

  • was sich hinter dem Begriff der Ambiguitätstoleranz verbirgt,
  • welche Rolle sie in (Paar-)Beziehungen spielt,
  • ob und wie man Ambiguitätstoleranz entwickeln kann,
  • warum sie für eine gute Paarbeziehung so wichtig ist,
  • und was hat das alles mit einem Gebet von Reinhold Niebuhr zu tun hat,

dann nehmen Sie sich bitte fünf Minuten Zeit und lesen Sie unseren Blog.

Lieber Gott ...

In den 1940er Jahren verfasste der amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr einen Text, der als das Gelassenheitsgebet in der ganzen Welt bekannt wurde. Die berühmtesten Zeilen daraus lauten:

„Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
Reinhold Niebuhr
Theologe

…die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die man nicht ändern kann … – Hand aufs Herz und jetzt mal ganz ehrlich: Wie gelassen gehen Sie mit Dingen um, die Sie nicht ändern können?

Oder anders gefragt:

Wie ist es denn um Ihre Ambiguitätstoleranz bestellt?

Was versteht man unter Ambiguitäts-toleranz?

Ambiguitätstoleranz, die

Wortart:   Substantiv, feminin

Lautschrift:   [ambiɡuiˈtɛːtstolərants]

Bedeutung:

Fähigkeit einer Person, mehrdeutige bzw. widersprüchliche Sachverhalte, ungewisse, unsichere Situationen u. Ä. zu akzeptieren, zu ertragen (und nicht als bedrohlich zu empfinden

Der Begriff leitet sich vom lateinischen „ambiguitas“ ab, was so viel wie „Doppelsinn“ bedeutet. 1949 definierte die Psychoanalytikerin und Psychologin Else Frenkel-Brunswik die Ambiguitätstoleranz als die messbare Fähigkeit eines Individuums, die Koexistenz der positiven und negativen Anteile an einem Objekt erkennen zu können. Salopp gesagt versteht man darunter also die Fähigkeit eines Menschen, widersprüchliches Denken und Handeln aushalten und akzeptieren zu können, ohne dabei im eigenen Empfinden und Handeln Einschränkungen zu erleben. 

Was so einfach klingt, ist oft gar nicht so leicht! Denn übertragen auf Beziehungen bedeutet das nicht weniger als die Diskrepanz zwischen der Erwartung, die wir an die Rolle unseres Partners haben und seiner tatsächlichen Performance aushalten zu können. – Und das, ohne die daraus resultierenden Konflikte auflösen zu müssen oder frustriert zu sein.

Woran erkennt man eine ausgeprägte Ambiguitäts-toleranz?

Vielleicht gehören Sie zu den Menschen, die mit einer hohen Ambiguitätstoleranz durchs Leben gehen? Dann fühlen Sie sich kaum gestresst oder unbehaglich, wenn Sie das Verhalten Ihrer Mitmenschen einmal nicht in Ihr gängiges Regelsystem einordnen können. 

Woran erkennt man Menschen mit einer schwach ausgeprägten Ambiguitäts-toleranz?

Menschen mit einer niedrigen Ambiguitätstoleranzschwelle empfinden jede Form von  Widersprüchlichkeit (Ambiguität) im Verhalten anderer als fast unerträgliche Herausforderung.

Ohne klare Strukturen verlieren sie den Boden unter den Füßen. Sie reagieren darauf z.B. mit Ablehnung der Situation oder sogar der damit verbundenen Person(en). 

Sie haben das Gefühl, Teil eines Spiels zu sein, dessen Regeln sie nicht beherrschen. Um nicht zu verlieren, versuchen sie, so schnell es geht, mit möglichst simplen Gesetzen wieder Ordnung ins Chaos zu bringen.

Gelingt das nicht, sind auch panische oder sogar aggressive Reaktionen möglich. Schuld daran ist der Selbsterhaltungstrieb. – Je unsicherer wir uns in einer Situation fühlen, desto mehr Angst entwickeln wir davor, die Kontrolle zu verlieren und uns selbst als nicht handlungsfähig zu erleben. Davor gilt es, sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu schützen. Wenn Flucht oder Ohnmacht ausscheiden, bleibt nur der Kampf!

Der Mangel an Ambiguitäts-toleranz als Auslöser von Beziehungskrisen

Im paartherapeutischen Kontext ist ein Mangel an Ambiguitätstoleranz als Trennungsgrund gar nicht mal so selten. Dabei ist die Sehnsucht nach klaren Strukturen in einer immer komplexeren Welt der Auslöser für die Krisen.

Die Sachverhalte der Partnerschaft lassen sich zumeist nicht so leicht mit  „richtig“ oder „falsch“, „gut“ oder „böse“, „schwarz“ oder „weiß“ beurteilen, um daraus eindeutige Folgehandlungen ableiten zu können.

Zudem ist der Wunsch nach einer klaren Definition und Festlegung von Abläufen und Entscheidungshilfen erfahrungsgemäß in solchen Bereichen besonders hoch, in denen wir uns selbst als nicht sonderlich kompetent einschätzen, die von uns aber als besonders wichtig eingestuft werden. 

Das ist einer der Gründe, warum so viele Eltern z.B. bei der Kindererziehung aneinandergeraten. Denn was der eine als Reaktion auf eine veränderte Situation betrachtet, wird vom anderen als inkonsequentes Handeln empfunden. Klare Absprachen sind zwar grundsätzlich wichtig, binäre Entscheidungswege lassen jedoch wenig Spielraum für begründete Ausnahmen.

Woran erkennt man einen Mangel an Ambiguitäts-toleranz?

Bei sich selbst einen Mangel festzustellen ist nicht ganz einfach, besonders dann, wenn es einen solch sensiblen Bereich wie die Persönlichkeit und das Ich-Erleben betrifft. Aber es gibt ein paar Anhaltspunkt, die, wenn sie zutreffen, Hinweise auf eine schwach ausgeprägte Ambiguitätstoleranz sein können:

  • Abweichungen von Absprachen werden grundsätzlich als Inkonsequenz interpretiert oder dem Partner wird vorgeworfen, sich bewusst nicht an getroffene Vereinbarungen halten zu wollen.
  • Inkonsistenzen im Verhalten der Partnerin führen zu Unsicherheiten und Verärgerung.
  • Es gibt eine Vorliebe für klare Regeln und Strukturen, die in jedem Fall einzuhalten sind.
  • Das Prinzip „entweder/oder“ hat Vorrang vor „sowohl & als auch“.
  • Vorgänge, Situationen und Menschen werden stark kategorisiert und bewertet.

Ambiguitäts-toleranz ist Übungssache:
3 Übungen für mehr Ambiguitäts-Toleranz

Mit der Ambiguitätstoleranz unserer Partnerin können wir nur dann umgehen, wenn wir auch selbst ambiguitätstolerant sind. Aber was, wenn nicht?

Die gute Nachricht ist: Die Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz ist nicht angeboren. Sie wird durch unsere Erziehung geprägt und es gibt Möglichkeiten, sie im Laufe des Lebens immer weiter zu entwickeln.

Man kann lernen, Unsicherheiten auszuhalten, mit Widersprüchen zu leben und sogar Dinge, die man nicht ändern kann, ohne lähmenden Frust hinzunehmen. 

1. Übung zur Reflexion

Reflektieren Sie Situationen, die in der Vergangenheit Ihre Ambiguitätstoleranz herausgefordert haben. Benennen Sie die Unsicherheitsfaktoren: Welche Risiken haben Sie in der Situation wahrgenommen und wie ist die Situation tatsächlich ausgegangen? Sind Ihre Befürchtungen eingetreten? Waren Ihre Bedenken gerechtfertigt? 

2. Übung zur Konfrontation

Bringen Sie sich bewusst in Situationen, die von Ihnen Ambiguitätstoleranz abverlangen: 

  • Warten Sie ab, bis die Frist für den versprochenen Rückruf Ihres Kollegen abgelaufen ist, bevor Sie nachhaken. 
  • Konfrontieren Sie sich selbst mit unbekannten Situationen. Besuchen Sie im Kino Sneak-Previews. Viele Buchhändler bieten Blinddates mit Büchern an. Kaufen Sie beim Bäcker oder Gemüsehändler Überraschungstüten oder  lassen Sie beim Restaurantbesuch Ihren Partner das Essen für Sie aussuchen.

Diese Übungen haben eins gemeinsam: Sie konfrontieren Sie mit dem Unbekannten und fordern Sie dazu heraus, sich auf den Umgang damit einzulassen.

3. Übung zum Wechsel der Perspektive

Sie glauben, Ihre Partnerin hat sich bewusst über eine klare Absprache hinweggesetzt? Versetzen Sie sich in ihre Rolle und fragen Sie sich, warum sie so gehandelt haben könnte. Welche Möglichkeiten fallen Ihnen dazu ein?

Diese Übung lässt Sie neue, bislang unentdeckte Facetten der ursprünglichen Situation wahrzunehmen und hilft Ihnen, Ihr Rollenverständnis zu entwickeln.

Fazit

Sie wissen nun, was Ambiguitätstoleranz ist und welche Bedeutung ihr in Beziehungen zukommt. Sie sind ab jetzt in der Lage, einschätzen zu können, wie stark diese Fähigkeit bei Ihnen und anderen ausgeprägt ist und Sie haben Übungen kennengelernt, um Ihre eigene Ambiguitätstoleranz weiter entwickeln zu können.

Mit ein bisschen Übung können Sie Ihre Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz schnell weiterentwickeln. Das lässt Sie auch in ungewohnten Situationen mit Unsicherheiten souverän umgehen. So bewahren Sie einen kühlen Kopf  und sind auf den Umgang mit der Ungewissheit perfekt vorbereitet. 

Lust auf noch mehr Liebeserklärungen?

Dann lesen Sie doch einfach weiter!

In unserem Blogmagazin sprechen wir über Kommunikation, Sexualität, Partnerschaft und Liebe. – Eben über alles, was Beziehungen ausmacht.

Schon jetzt stehen Ihnen gut zwei Dutzend spannende Artikel zur Verfügung und es werden immer mehr.

Erfahren Sie
mehr
über uns

Sabine
Jantzer-Schmidt

Systemische Beraterin | Systemische Paarberaterin | Lifecoach | Zertifizierte Mediatorin nach dem Mediationsgesetz | Heilpraktikerin für Psychotherapie nach dem Heilpraktikergesetz

Oliver
Schmidt

Systemischer Berater | Systemischer Paarberater | Lifecoach | Zertifizierter Mediator nach dem Mediationsgesetz

Kommen Sie mit
uns in
Kontakt

Die Praxis an den Saumseen

Hohleichweg 5
76189 Karlsruhe

+49 721 98 61 54 50

info@sjs-beratung.de

Abonnieren Sie
unseren
Newsletter

Lassen Sie uns Freunde werden

Wir sind nicht allein

Paartherapie Eheberatung  Paarberatung Beziehungscoaching Empowerment CoachingsSingle Coaching  |  Trennungsbegleitung  |  Sexualtherapie Mediation nach dem Mediationsgesetz  |  Psychotherapie nach dem Heilpraktikergesetz  |  Supervision  | Vorträge  |  Seminare 

Cookie-Einwilligung mit Real Cookie Banner